Existenzgründungsunterstützung für Menschen mit Schwerbehinderung im bundesweiten Vergleich

Wo gibt es Ähnlichkeiten, was sind die Unterschiede?

„enterability sollte es bundesweit geben!“ lautet ein Kommentar bei  der aktuellen Gründer/innenbefragung. Immer wieder bekommt das enterability-Team Anfragen, ob es das Projekt oder ähnliche Projekte auch in anderen Bundesländern gibt. Bis auf Sachsen-Anhalt ist das restliche Bundesgebiet jedoch „enterability-freie Zone“.  Vergleichbare Beratungsstellen gibt es momentan nicht – ähnliche Projkete gab es über eine kurze Zeitspanne im Rahmen des europäischen Equal-Projekts mit „Go! unlimited“ in Nordrhein-Westfalen und „em.power“ in Rheinland-Pfalz.  Welche Angebote von Seiten der einzelnen Länder[1] Menschen mit Schwerbehinderung, die eine Existenz gründen wollen, aktuell gemacht werden, haben wir in Telefoninterviews erfragt.

Wer ist zuständig?

Zunächst einmal ist es gar nicht so leicht herauszufinden, welche die zuständige Stelle ist, an die sich Existenzgründer/innen mit Schwerbehinderung wenden müssen, um entsprechende unterstützende Leistungen zu erhalten. Die Integrationsämter heißen formal nicht überall so, sind teilweise an das Landesamt für Soziales, Jugend und Familie angesiedelt, teilweise an einen Kommunalverband oder an spezifische Versorgungsstellen, wie beispielsweise die Örtlichen Fürsorgestellen in Nordrhein-Westfalen. Doch meist gelangt man nach wenigen Minuten in der Warteschleife mit Fahrstuhlmusik an eine Person, die Auskunft geben kann.

Welche unterstützenden Maßnahmen gibt es?

Ist man dann bei dem/der Beauftragten gelandet, die für Existenzgründungen mit Schwerbehinderung zuständig ist, kann man alles fragen, was einem so unter den Nägeln brennt. Insbesondere wird man in erster Linie über die unterstützenden Leistungen aufgeklärt, wie Darlehen, Zinszuschüsse, technische Hilfsmittel, usw. Fragt man jedoch nach spezifischer wirtschaftlicher Beratung, wird man gemeinhin an die IHK oder die Handwerkskammer weitergeleitet. In Bremen vermittelt das Amt für Menschen mit Behinderung die Antragsteller/innen bei Bedarf an bestimmte Unternehmensberatungen. Die Kosten für solch eine Beratung werden jedoch nicht übernommen. In Sachsen wird in Bezug auf wirtschaftliche Beratung an die Haus- bzw. Investitionsbank verwiesen. In wenigen Fällen, wie dem Saarland, wird noch vor einem schriftlichen Antrag ein Gespräch über die Geschäftsidee und zur Person des/der Gründer/in geführt. Auf diese Weise soll schon mal abgetastet werden, ob gewisse unabdingbare Voraussetzungen überhaupt erfüllt werden können, wie z.B. ob eine Unternehmerpersönlichkeit vorhanden ist, wie der Gesundheitszustand aussieht, welche fachliche Kenntnis der/die Antragsteller/in besitzt, usw. Die Mitarbeiter/innen verstehen sich nicht als Beratungs- sondern vielmehr als Informationsstelle für Selbständige, d.h. wer Beratung braucht, muss sich diese selbst besorgen. Einige vertreten auch die Meinung, dass Menschen die gründen möchten und es auch können, gar keinen Beratungsbedarf haben. Ferner würden die Menschen mit einer Unternehmer/innenpersönlichkeit nicht vor bürokratischen Hürden zurückschrecken, die auf dem Weg in die Selbständigkeit auftauchen.

Wie fällt die finanzielle Unterstützung aus?

Alle Integrationsämter können Darlehen und Zinszuschüsse für geschäftsbedingte Investitionen vergeben. Die Höhe dieser obliegt jedoch den einzelnen Integrationsämtern in den Ländern. Ein Großteil der befragten Länder verlangt von den Antragsteller/innen vorab eine finanzielle Sicherung, wie zum Beispiel eine Bankbürgschaft oder eine Lebensversicherung (Berlin und Sachsen-Anhalt sind die Ausnahme). Darlehen und Zinsschüsse werden in der Regel nur nachrangig gewährt, um etwaige behinderungsbedingte Benachteiligungen „auszubügeln“. In Mecklenburg-Vorpommern springt das Integrationsamt erst ein, wenn nachgewiesen werden konnte, dass weder Banken, Reha-Träger oder Verwandte Kredite gewähren konnten oder wollten. In Rheinland-Pfalz gibt es weder Darlehen noch Zinszuschüsse für Menschen mit Behinderung, die sich selbständig machen wollen, da die Gelder ausschließlich in Leistungen fließen die behinderungsbedingte Nachteile in klassischen sozialversicherungspflichtigen Angestelltenverhältnissen ausgleichen sollen. Die potentiellen Gründer/innen werden an die Investitions- und Strukturbank verwiesen, um dort ein Existenzgründungsdarlehen zu beantragen. Die Höhe der Darlehen durch die Integrationsämter liegt im Schnitt bei 20.000€, dabei gewährt Sachsen mit 35.000€ die höchste Summe im Bundesvergleich, während Nordrhein-Westfalen und Berlin mit 15.000€ das untere Ende des Spektrums abbilden. Bremen und Hamburg gewähren ebenfalls bis zu 20.000€, diese Summe darf aber nur maximal 70% der Investitionskosten repräsentieren. Eine Besonderheit in seiner Vorgehensweise stellt das Land Mecklenburg-Vorpommern dar: Hier wird die Geschäftsidee, nachdem eine fachkundige Stellungnahme bereits erstellt wurde, abschließend nochmals von einer externen Stelle (Gesellschaft für Struktur- und Arbeitsmarktentwicklung) auf die Tragfähigkeit geprüft.

An welche Bedingungen sind die Leistungen geknüpft?

Abgesehen von den persönlichen und fachlichen Voraussetzungen, verlangen die Integrationsämter einige Unterlagen und Nachweise, die nicht nur den Anspruch auf Unterstützung beweisen sollen (wie z.B. der Schwerbehindertenausweis), sondern auch die Rentabilität des Unternehmens. Einige Länder wie Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen, Hamburg, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern verlangen von den potentiellen Gründer/innen, ebenso wie hier in Berlin, einen Business- und Finanzplan. Darin soll die Geschäftsidee erklärt und das wirtschaftliche Potential der Idee begründet werden. In einigen Ländern muss im Finanzplan die voraussichtliche Unternehmensentwicklung der nächsten drei Jahre festgehalten werden, nur in Hamburg sind dies sogar fünf Jahre. Bis auf Bremen fordern all die oben genannten Länder auch Nachweise über die Teilnahme an einem Existenzgründungsseminar. Fachkundige Stellungnahmen sind ebenfalls ein Muss. In Niedersachsen reicht beispielsweise ein Gutachten über die Tragfähigkeit einer Geschäftsidee eines Steuerberaters aus, während in Mecklenburg-Vorpommern Gutachten von der IHK oder der Handwerkskammer ausgestellt werden müssen. Darüber hinaus verlangen Baden-Württemberg und Bayern im Zweifelsfall ein ärztliches Gutachten, das die Erwerbsfähigkeit und Belastbarkeit der Antragsteller/innen bestätigt.

Zwar haben Baden-Württemberg und Bayern besonders strenge Anforderungen an ihre Existenzgründer/innen mit Schwerbehinderung, im Vergleich zu den andern Ländern bieten sie allerdings einen online zugänglichen und übersichtlichen Leitfaden, in dem alle notwendigen Informationen und Anlaufstellen für die Existenzgründer/innen aufgelistet sind.  Darin wird anhand eines Musterbeispiels sogar expliziert, welche Eckdaten ein Business- und Finanzplan zu enthalten hat und vieles mehr.

Wenige Anträge, wenig Unterstützung – oder aber wenig Unterstützung, wenige Anträge?

Insgesamt beurteilten die befragten Sachbearbeiter/innen das Interesse von Menschen mit Schwerbehinderung an einer selbstständigen Tätigkeit als eher gering. Die Anzahl derer, die einen Antrag stellen, beschränkt sich im Schnitt auf eine Person pro Monat. Höchstens die Hälfte dieser Anträge wird bewilligt. Die Bewertung der Tragfähigkeit der Geschäftsideen durch die Sachbearbeiter/innen fiel sehr unterschiedlich aus. Einige bestätigten, dass aufgrund der sorgfältigen Prüfung im Vorfeld sich die Tragfähigkeit der Ideen wie prognostiziert entwickeln würde. „Zum Scheitern verurteilt“ seien die Geschäftsvorhaben dieser Menschen, konstatieren andere. Ein Sachbearbeiter sprach sogar davon, dass sich einige Selbständige mit Schwerbehinderung aufgrund des geringen Einkommens mit der Selbständigkeit in die Schicht der „working poor“ (Erwerbsarmut) katapultieren würden.

Einige der befragten Personen aus den Integrationsämtern erwähnten, dass ein Projekt wie enterability sich in ihrem Bundesland aufgrund der geringen Zahl an Antragsteller/innen und oftmals auch aufgrund der „Aussichtslosigkeit“ der Geschäftsideen nicht lohnen würde. Im Umkehrschluss drängt sich jedoch die Frage auf, ob die geringe Zahl der Anträge nicht viel mehr auf die geringe Unterstützung zurückzuführen ist. Vielleicht werden Gründungswillige in einigen Bundesländern durch eine vermeintliche „gründungsfeindliche“ Einstellung der Sachbearbeiter/innen in den Integrationsämtern abgeschreckt. Dieser Einstellung könnten eine verzerrte Informationen zugrunde liegen: Selbst in Berlin beantragen nur ca. 25 Prozent der behinderten Existenzgründer/innen eine Förderung beim Integrationsamt. Die anderen 75 Prozent gründen ohne Förderung. Im Regelfall tauchen diese beim Integrationsamt als Gründer/innen gar nicht in den Zahlen auf. Sie werden von den Mitarbeiter/innen des Integrationsamtes daher nicht wahrgenommen, wodurch die Zahl der Menschen mit Behinderung, die sich selbstständig machen, stark unterschätzt wird. Das Argument also, dass die Fallzahlen zu gering für eine Beratung nach dem Vorbild von enterability seien, entspricht einem Fehlschluss, der wiederum der verengten Perspektive auf die Zahl der Förderanträge geschuldet ist.

Natürlich muss festgehalten werden, dass der Berliner Markt im Bundesvergleich auch für Menschen ohne Schwerbehinderung eine „Gründungsoase“ darstellt: Hier sind aufgrund der Größe und Diversität der Stadt Gründungen möglich, die in anderen Landesteilen undenkbar wären. Andererseits können regionale Spezifika auch Gründungsnischen bieten, die in Berlin nicht vorhanden sind.

Damit sich Gründer/innen mit Schwerbehinderung langfristig am Markt behaupten können und nicht in die Erwerbsarmut geraten, ist eine qualitativ hochwertige Vorbereitung notwendig – die nur durch eine Beratung/ Qualifizierung sichergestellt werden kann, die den besonderen Bedingungen ihrer Schwerbehinderung gerecht wird. Wir wissen aus acht Jahren Praxis, wissenschaftlichen Studien und eigenen Befragungen, dass eine selbstständige Tätigkeit eine wichtige Alternative zu einer abhängigen Tätigkeit und gar der Arbeitslosigkeit darstellt!



[1] Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts lagen Angaben von folgenden Bundesländern vor: Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen

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